Wer,
wenn nicht wir?
Erzählung
Weil Weihnachten ist und ihre Mutter sie gebeten hat, ihre kranke Großmutter zu besuchen, fährt Anna dieses Jahr schon einen Tag früher nachhause in die Kleinstadt ihrer Kindheit. Die Großmutter besitzt eine Eigentumswohnung, an die Anna bis zu diesem Zeitpunkt, als der Tod der Großmutter wahrscheinlich wird, nicht gedacht hat …
Vor den Fenstern war so gut wie nichts mehr zu erkennen. Ich hatte Boris nicht gesagt, wann ich ankommen würde, war mir den ganzen Tag über nicht sicher gewesen, welchen Zug ich nehmen würde, so bestand keine Gefahr und auch keine Aussicht darauf, dass er am Bahnhof stand und auf mich wartete. Ich hätte gerne etwas auf das neblige Glas gezeichnet, aber die modernen Fenster beschlugen nicht. Etwa den Querriss von Omas ehemaliger Wohnung mit Matratze und Blumentöpfen. Und darunter DID YOU KNOW? Und ein Strichgesicht, dessen grinsender Mund sich von einem Ohr zum anderen zog. In der Zeit, die der Zug nach Wien brauchte, konnte ich mit dem Flugzeug nach Berlin, Paris oder London fliegen, die Anreise zum Flughafen nicht eingerechnet. Die Landschaft verbarg sich hinter dem Schneetreiben, mitten in den Wolken gab es keinen Zwischenstopp bis Wien Meidling.
(…)
Der Zug ruckelte wieder los.
– Fuck Austria.
Die Anzahl der Gleise nahm zu,
– Fuck Vienna
abgestellte Züge, abgetakelte Fabriken oder Bahnhofsgebäude,
– I’m of a rich family
die erst vor kurzem gebauten Wohnhäuser wirkten in ihrer gewollten Modernität lächerlich und unpassend.
– I’m Jesus, I’m of a rich family
Obwohl wir uns dem Zentrum näherten, drosselte der Zug die Geschwindigkeit, so als müsse er sich der Umgebung erst versichern.
– I will change everything.
Ich dachte, ein Rapper, aber warum muss er bloß so laut mitsingen? Ich dachte, ein Verrückter. Aber als ich aufstand, sah ich einen jungen, zarten Schwarzen, keine 20, im hellrosa Kapuzensweater und Jeans, der meinen Blick, falls ich mich nicht überhaupt täuschte, nur kurz erwiderte.

Ausschnitte in Übersetzungen
übersetzt von Bernard Banoun, erschienen in: Les Belles Etrangères: Vingt ans d’ouverture aux littérature du monde, Actes Sud 2008
¿Quién, si no nosotros? (Fragmento)
übersetzt von Hariet Quint, überarbeitet von Marco Aurelio Larios, erschienen in:
Escritores contemporáneos de Austria, hrsg. von Elfriede Hammelmüller u. Luis Medina, La Zonámbula 2009