Wer,
wenn nicht wir?

128 Seiten, Hardcover SU, 12,5 x 19 cm
ISBN: 978-3-7076-0240-1
€ 19,80
 

Weil Weihnachten ist und ihre Mutter sie gebeten hat, ihre kranke Großmutter zu besuchen, fährt Anna dieses Jahr schon einen Tag früher nachhause in die Kleinstadt ihrer Kindheit. Die Großmutter besitzt eine Eigentumswohnung, an die Anna bis zu diesem Zeitpunkt, als der Tod der Großmutter wahrscheinlich wird, nicht gedacht hat… …

 
 

Vor den Fenstern war so gut wie nichts mehr zu erkennen. Ich hatte Boris nicht gesagt, wann ich ankommen würde, war mir den ganzen Tag über nicht sicher gewesen, welchen Zug ich nehmen würde, so bestand keine Gefahr und auch keine Aussicht darauf, dass er am Bahnhof stand und auf mich wartete. Ich hätte gerne etwas auf das neblige Glas gezeichnet, aber die modernen Fenster beschlugen nicht. Etwa den Querriss von Omas ehemaliger Wohnung mit Matratze und Blumentöpfen. Und darunter DID YOU KNOW? Und ein Strichgesicht, dessen grinsender Mund sich von einem Ohr zum anderen zog. In der Zeit, die der Zug nach Wien brauchte, konnte ich mit dem Flugzeug nach Berlin, Paris oder London fliegen, die Anreise zum Flughafen nicht eingerechnet. Die Landschaft verbarg sich hinter dem Schneetreiben, mitten in den Wolken gab es keinen Zwischenstopp bis Wien Meidling.

(…)

 

Der Zug ruckelte wieder los.

– Fuck Austria.

Die Anzahl der Gleise nahm zu,

– Fuck Vienna

abgestellte Züge, abgetakelte Fabriken oder Bahnhofsgebäude,

– I’m of a rich family

die erst vor kurzem gebauten Wohnhäuser wirkten in ihrer gewollten Modernität lächerlich und unpassend.

– I’m Jesus, I’m of a rich family

Obwohl wir uns dem Zentrum näherten, drosselte der Zug die Geschwindigkeit, so als müsse er sich der Umgebung erst versichern.

– I will change everything.

Ich dachte, ein Rapper, aber warum muss er bloß so laut mitsingen? Ich dachte, ein Verrückter. Aber als ich aufstand, sah ich einen jungen, zarten Schwarzen, keine 20, im hellrosa Kapuzensweater und Jeans, der meinen Blick, falls ich mich nicht überhaupt täuschte, nur kurz erwiderte.

 

Rosemarie Poiarkov "Wer wenn nicht wir?", Erzählung, Cover: Auf dunkellilafarbenen Hintergrund fliegt eine Schildkröte mit weit ausgebreiteten Armen über leicht hellgelben Text
 
 
 
 

Ausschnitte in Übersetzungen

Qui, à part nous? (Extrait)

übersetzt von Bernard Banoun, erschienen in: Les Belles Etrangères: Vingt ans d’ouverture aux littérature du monde, Actes Sud 2008

¿Quién, si no nosotros? (Fragmento)

übersetzt von Hariet Quint, überarbeitet von Marco Aurelio Larios, erschienen in:

Escritores contemporáneos de Austria, hrsg. von Elfriede Hammelmüller u. Luis Medina, La Zonámbula 2009

engere Auswahl Buch.Preis 2008

Presse

Wenige Tage umfasst Poiarkovs bis ins kleinste Detail stimmige Erzählung. Es ist eine Prosa mit Trauerrand. Das Sterben und der Tod der Grossmutter werden zum Thema in einem Text, der mit wenigen Strichen die Psychologie einer
kleinstädtisch-normalen Familie erlebbar macht. Die Ich-Erzählerin ist um die dreissig, und sie ist ein Seismograph der menschlichen Verhältnisse. Mit mathematisch klaren Sätzen werden die Distanzen vermessen, und es zeigt sich: Nichts ist so sehr ein Fall vertrackter kleinbürgerlicher Arithmetik wie die Nähe. Wenn Rosemarie Poiarkov etwas beherrscht, dann ist es die Verdichtung des scheinbar Nebensächlichen zu einer literarischen Hauptsache. «Wer, wenn nicht wir?» ist eine schwebend leichte
Erzählung über ein schweres Thema.

Paul Jandl, NZZ Online

Daneben wird (…) vom Sterben der Großmutter erzählt, aber auch vom Leben der Mutter, die nach der Scheidung vom Vater ihrer Kinder gerade dabei ist, mit einem neuen Mann ein neues Leben zu beginnen. Bemerkenswert ist dabei die Präzision, mit der die Autorin noch so geringe Differenzen im Mutter-Tochter-Verhältnis zu benennen vermag. Und nicht zuletzt ist das Buch natürlich ein Buch über diese Tochter selbst, über ihre Sorgen und Ängste, über Liebe und gegenwärtige Formen des (Zusammen-) Lebens.

Nicole Streitler-Kastberger, Falter

 

Erzählerisch entspricht dem Schwebenden dieses Lebens das fortwährende Ineinanderfließen von Träumen, Fantasievorstellungen, Kindheitserinnerungen, Gedanken zum Tod und realen Alltagssituationen der Erzählgegenwart. Im Lesen kann man diese Ebenen nicht immer gleich auseinanderhalten, der Text schwebt zwischen ihnen dahin wie das Leben der jungen Frau zwischen all den Optionen, von denen sie keine ergreift.

Evelyne Polt-Heinzl, Die Furche

Stimmungsvolle Detailaufnahmen aus dem Innenleben einer 30-Jährigen.

Andreas Kremla, Buchkultur

In ihrer eindringlichen Erzählung über eine scheinbar eintönie Lebensfolie befördert Rosemarie Poiarkov stumme Kämpfe mit Moral, Wurzeln und Prägungen zutage. Ein heutiges Frauenbild.

Caro Wiesbauer, Kurier Kurztipps

  

Das Thema des Sterbens wird dabei unspektakulär abgehandelt und die subversive Kraft des Textes bricht in einfachen Szenen durch. Denn es geht auch um banale Dinge, zum Beispiel: Welcher Spruch kommt auf die Parte, oder: Wer erbt die Eigentumswohnung? Enkelin Anna macht sich Hoffnungen und muss sich deshalb mit ihrer Zukunft befassen. Indem sie mit unbestechlichem Blick registriert, was passiert, und beim Erzählen stets bei sich selbst bleibt, bekommt sie neue Erkenntnisse. Unspektakulär gut erzählt.

Irene Prugger, Wiener Zeitung

Die Protagonistin Anna versucht, das Hintanstellen der Hinterfragungen als Teil des Erwachsenwerdens zu begreifen, indem sie die Biographien der Mutter und der Großmutter aus deren Sicht zu spüren versucht. Wieso resignieren Menschen, was macht sie hart und unerbittlich, was muss geschehen, dass sie wieder aufblühen, was lässt sie emotional erkalten und wie kann ich dem aus dem Weg gehen? Und wieso tut Liebe weh? Was hat meine Herkunft mit meiner Zukunft zu tun? Rosemarie Poiarkovs Anna findet letztlich keine Antworten auf diese Fragen, weil es vielleicht auch keine Antworten gibt, sondern eben doch nur: Annahmen. Und Hinterfragung.

Pamela Rußmann, fm4